Erhard Goller
Magische Momente und wilde Pferde




Ein kleiner Tick mit dem Finger, die Kette fällt hinten zwei Kränze nach unten, die Muskulatur spannt sich bis kurz vor dem Platzen, auf dem steilen Hohlweg spritzen ein paar Steine nach hinten weg, in seinem Gesicht steht pure Entschlossenheit, ja Aggressivität, wie hinein gemeißelt. Es war eine reine Zerreißprobe zwischen Willen auf der einen Seite und Körper und Material auf der anderen. Nichts zerriss. Keine Kette, kein Muskel und auch kein Traum. Ein kurzer magischer Moment, eine Art Standbild mit Symbolcharakter.
Mit dieser brachialen Attacke gegen Malte Urban, mitten im steilsten Stück der Strecke, sicherte sich Stefan Sahm am 9. Mai 2004 in Sundern-Hagen zum zweiten Mal in seiner Karriere die Bronzemedaille bei einer Deutschen Meisterschaft. Es war einer der seltenen Momente, in denen Stefan Sahm aus einem sonst unberührten Areal seiner Seele eine Energie mobilisierte, die ihn über die eigenen Grenzen hinaus brachte. Diese Art von Aggressivität ist vielleicht das Reservoir, das er als Sportler noch nicht ausgeschöpft hat, das ihn auch vollends an die Weltspitze heran führen könnte.

Die andere Seite der Medaille: Was im Rennen bei ihm meistens vermisst wird, das macht ihn zu einem Zeitgenossen, mit dem man Pferde stehlen kann. Ein zuverlässiger, verantwortungsbewusster Kamerad, versehen mit einem trockenen, augenzwinkernden Humor. Ein bescheidener Mensch, dem schon das Fliegen in der ersten Klasse Unbehagen bereitet, weil er ein ausgeprägtes Empfinden für Gerechtigkeit besitzt. Ein Mensch, der keine Mühe hat sich für Teamkameraden einzusetzen, seine eigenen Ambitionen für andere zurück zu stecken. Einer, der in seinem Umfeld für Harmonie sorgt und sie auch genießt.
Große Worte, lautstarke Ankündigungen hört man nie. Allenfalls mal auf Nachfrage den Wunsch einmal in seiner Karriere den Klassiker in Münsingen zu gewinnen.
Seine Leidenschaft(en) genießt er lieber still. Er tüftelt an seinem Bike, beschäftigt sich ausdauernd mit Material und Technik, bastelt gewissermaßen an einer intensiven Beziehung zu seinem Arbeitsgerät. Wenn er ein Neues bekommt, setzt er sich mit ihm auseinander. Auch emotional. Wie er es beschreibt, ist es ein wenig wie das Zureiten eines jungen, wilden Pferdes. Raus in die Natur, rauf auf den Berg, runter die Down-Hills um die Eigensinningkeit des Geräts zu erleben. Was daraus entsteht ist ein Kompromiss. Das Feintuning des Bikes und das Aneignen des optimalen Handlings machen Fahrer und Mountainbike zu einer Einheit. Darin lebt „Biker Sahm“ in Reinkultur.
In der Mixtur aus Technik, Natur und Körper lässt sich seine Motivation zum Sport entdecken. Und er bringt eine Menge Talent mit. Erst mit 17 begann er mit dem Radsport. Die turnerische Grundausbildung war eine hervorragende Basis für die technischen Fähigkeiten auf dem Bike. Koordination und Gleichgewichtsgefühl sind bestens ausgeprägt. Gepaart mit dem Auge für die Linie macht ihn das zu einem der besten Techniker im Bike-Zirkus. Was ihm manchmal fehlte ist ein wenig Risikobereitschaft, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. So sieht das nicht nur sein Trainer Toni Uecker. Genau daran hat der Coach versucht mit Stefan Sahm zu arbeiten. Und so war 2005 in St. Märgen der erste Sieg in einem E1-Rennen zu besichtigen. Ein Rennen, in dem bei Stefan Sahm das Selbstbewusstsein zu erkennen war, das man zum Gewinnen braucht. Am letzten steilen Anstieg, auch eine seiner großen Stärken, setzte er sich schließlich durch.
Mit diesem gewachsenen Selbstvertrauen könnte es in Stefan Sahms Rennen in Zukunft noch öfter zu Zerreißproben kommen, in denen sein Wille über Körper und Material triumphieren.

Erhard Goller

 


 



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